Prof. Dr. Michael Baumann, das DKFZ etabliert gemeinsam mit der Deutschen Krebshilfe an seinem Standort in Heidelberg ein Nationales Präventionszentrum. Was führte zu der Gründung dieses Zentrums?
In Deutschland liegt die Zahl der Krebsneuerkrankungen aktuell bei etwa 500.000 im Jahr und mehr als 200.000 Menschen sterben an Krebs. Bereits für 2030 rechnen wir mit etwa 600.000 neuen Krebsfällen pro Jahr. Langfristig können wir nur dann einen Rückgang dieser erschreckenden Zahlen erreichen, wenn wir das große Potenzial der Krebsprävention besser nutzen. In Deutschland sind etwa 40 Prozent aller Krebsfälle auf einige wenige, aber verbreitete Risikofaktoren zurückzuführen: Tabakkonsum, Ernährung, Übergewicht, Bewegungsmangel, hoher Alkoholkonsum sowie bestimmte Infektionen. Eine konsequente Primärprävention kann einen großen Teil dieser Fälle verhindern. Nach heutigem Wissen können Primärprävention und Früherkennung zusammengenommen die Krebssterblichkeit sogar um bis zu 70 Prozent senken.
Diese Zahlen belegen, wie notwendig es ist, die Krebsprävention stärker in Forschung, Gesellschaft und Politik zu verankern. Um ein nationales Schaufenster für die Krebsprävention zu schaffen, haben wir gemeinsam mit der Deutschen Krebshilfe das Nationale Krebspräventionszentrum gegründet und wollen damit eine international sichtbare und hochkompetitive Pioniereinrichtung aufbauen. Das Nationale Krebspräventionszentrum soll Präventionsforschung, angewandte Prävention, Ausbildung und Outreach unter einem Dach vereinen. Die interprofessionelle und translationale Ausrichtung des Zentrums reicht von der Grundlagenforschung und angewandter Forschung bis zur Beratung von Öffentlichkeit und Entscheidungsträgern. Damit wollen wir dazu beitragen, die Ergebnisse der Präventionsforschung möglichst rasch umzusetzen – in personalisierte Beratungsangebote für Bürger, evidenzbasierte Konzepte für interventionelle Präventionsstudien und Modelle für deren flächendeckende Verbreitung.
Knapp 40 Prozent der Krebserkrankungen sind nach heutigem Wissen durch Veränderungen im Lebensstil vermeidbar. Was muss sich in Deutschland konkret ändern, um diesen 40 Prozent näher zu kommen und wo ist die Politik gefragt?
Um mit der Primärprävention erfolgreich zu sein, müssen wir in Deutschland letztlich 80 Millionen Menschen erreichen – aus unterschiedlichen Altersgruppen, unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten und mit unterschiedlichen Einstellungen. Dazu müssen wir zielgruppenspezifische evidenzbasierte Präventionsprogramme entwickeln und über Outreach-Aktivitäten in die Fläche tragen. Dabei sind wir auf eine Vielzahl von Partnern angewiesen: Unsere bereits etablierten klinischen Netzwerke sind ideal, um groß angelegte Präventionsstudien aufzubauen. Aber auch weitere Partner wie Krankenkassen, Schulen, Kitas oder Vereine sowie betriebsärztliche Dienste und Medien sind entscheidend, um qualitätsgeprüfte Programme deutschlandweit zu verbreiten.
Ein konsequent präventiver Lebensstilist für den Einzelnen nicht immer einfach umzusetzen. Umgebung und soziale Faktoren machen es den Menschen leichter oder aber schwerer, den Empfehlungen zu folgen. Wird nur Verzicht gepredigt, so erreicht dies zu wenige Menschen. Es braucht daher an mancher Stelle auch eine Gesetzgebung, die es allen erleichtert, gesundheitsbewusst zu leben, außerdem attraktive Anreize und Unterstützungsmodelle. Das Nationale Krebspräventionszentrum will auch Politiker und Entscheidungsträger unterstützen, strukturelle Maßnahmen auf den Weg zu bringen, die ein gesundheitsförderndes Umfeld für alle Menschen schaffen.
Was können wir beim Thema „Prävention“ von unseren europäischen Nachbarn lernen?
In Europa gibt es nicht das eine große Vorbild in der Krebsprävention. Aber einzelne Aspekte können wir von unseren Nachbarn abschauen: Zunächst bei der Tabakkontrolle: Auf der europäischen Tabakkontrollskala belegt Deutschland einen beschämenden letzten Platz. Hier sollten wir uns Großbritannien und Irland zum Vorbild nehmen: Beide Länder haben bereits seit vielen Jahren zahlreiche Maßnahmen umgesetzt, die nachweislich den Tabakkonsum senken, wie etwa eine hohe Besteuerung oder ein Verbot der Tabakwerbung im öffentlichen Raum. Beispiel Impfen gegen Krebs: Schweden, Finnland und Norwegen impfen in den Schulen gegen HPV und erreichen damit Impfquoten von über 70 Prozent. Wir dagegen setzten auf Eigeninitiative der Eltern mit dem Resultat, dass gerade mal 43 Prozent der 15-jährigen Mädchen vollständig geimpft sind. Damit ist Deutschland noch weit von einem flächendeckenden Schutz vor krebserregenden humanen Papillomviren entfernt, der erst bei einer Durchimpfungsrate von mindestens 70 Prozent gegeben ist.
In der Nationalen Dekade gegen Krebs sind Sie nicht nur Ko-Vorsitzender des Strategiekreises, sondern auch Vorsitzender der AG „große ungelöste Fragen der Krebsforschung“. Was sind solche großen ungelösten Fragen und welche davon ist die Drängendste?
Zunächst mussten wir identifizieren, welche Ansätze der Krebsforschung in Deutschland das Potenzial haben, möglichst schnell Ergebnisse zu erzielen, die neue Horizonte erschließen und den Patienten tatsächlich zugute kommen. Dafür müssen auf dem entsprechenden Gebiet in Deutschland herausragende Expertise und Ressourcen existieren und rasch zu mobilisieren zu sein. Das Ziel ist es, Programme mit hohem Innovationspotenzial sowie größtmöglicher Hebelwirkung auf den Weg zu bringen, die innerhalb der ersten fünf Jahre messbare Erfolge für den Patienten versprechen.
Als eine der drängendsten onkologischen Herausforderungen haben wir zunächst die Tumorheterogenität und die daraus vielfach resultierende Therapieresistenz identifiziert. Kennzeichnend dafu?r ist, dass vermeintlich gleiche Tumoren in verschiedenen Patienten unterschiedlich auf eine Behandlung ansprechen und dass es häufig - auch bei gutem Ansprechen auf eine primäre Therapie - zum Ru?ckfall kommt. Dies ist oft der klinische Ausdruck dafür, dass im Tumor verschiedenen Populationen an Krebszellen vorhanden waren. Die resistentere Population überlebt und setzt sich durch. Therapieresistenzen sind eines der größten Hemmnisse für die moderne Krebsmedizin und gleichzeitig eine große wissenschaftliche Herausforderung. Das Bundesministerium hat hierzu inzwischen ein spezifisches Förderprogramm ausgeschrieben.
Was muss jetzt getan werden, um bei der Digitalisierung der Onkologie signifikante Fortschritte zu erzielen?
Basis für eine erfolgreiche Digitalisierung des Gesundheitssystems ist eine verlässliche, sichere und umfassende digitale Infrastruktur. In vielen Bereichen der Krebsmedizin sind wir auf große Datenmengen angewiesen: Vor allem die Forschung zur Krebsfrüherkennung und zur Prävention basiert auf riesigen Datenmengen aus Kohortenstudien oder Daten, die von den Krebsregistern gesammelt und aufbereitet werden. Nur auf der Basis von Krebsregisterdaten lässt sich herausfinden, wie viele Menschen an welchen Krebsarten erkranken, wie und mit welchem Erfolg sie behandelt werden oder welche Lebensstilumstände mit der Erkrankung verbunden sind. Aber in Deutschland erschweren die föderalen Struktur und die einzelnen Sektoren in der Versorgung eine einheitliche und vor allem die lückenlose Erhebung solcher Daten. Hier bräuchten wir sehr dringend eine bundesweite Harmonisierung, Vereinheitlichung und Vereinfachung der Prozesse.
Für die moderne Präzisionsonkologie wiederum sind wir auf klinischen Daten und auf Daten aus den molekularen Tumoranalysen angewiesen. Dabei handelt es sich um hochsensible Informationen, die entsprechend den spezifischen Anforderungen des deutschen Rechts geschützt werden müssen. Die Medizininformatik-Initiative des BMBF leistet wichtige Pionierarbeit, um die Daten besser für die medizinische Anwendungen nutzbar zu machen. Diese Anstrengungen werden zur Zeit ergänzt durch Initiativen wie das Deutsche Genom-Phänom-Archiv, das vom DKFZ und der Universität Tübingen koordiniert wird. Mit dem Archiv soll eine nationale Daten-Infrastruktur geschaffen werden, die die sichere Speicherung, den Zugriff und die Genom-, Transkriptom- und Epigenom-Analyse ermöglicht.